Samstag, 20. Juni 2015

Die stehende Heimat, deren Bedingungen wir kennen, weil sie uns bereits symbolisch geworden sind, ist etwas anderes als der befristete Wechsel von Haus zu Haus. Eine Episode, deren Ausgang mir noch unklar ist und deren gerade begonnenes Andauern noch zu kurz ist, um eine durch mich wiederholbare Syntax entstehen zu lassen, vergegenwärtigt mir vor dem Hintergrund des Hauses – des Zu-hauses – in das als ein Ort von immer vergangenen Tagen keine Rückkehr möglich ist, die Relativität der Existenz eines Zuhauses durch doppelte Abwesenheit, nämlich meiner von diesem im Raum und der des Beheimatenden in Raum und Zeit.
Das vorbewusste Haus, also der Ort von frühester Kindheit, der zuerst und daher wahrscheinlich am intensivsten erlernt und erlebt wird, indem er gelebt wird, und der problemlos das Elternhaus, das Haus der Großeltern, des besten Freundes, die Ferienwohnung und das erste Klassenzimmer in sich aufnimmt, legt die Koordinaten des Systems fest, auf dem später die Abschnitte selbstbestimmten, kontingenten Lebens eingezeichnet werden: das Wohnen in Partnerschaft, die Orte des Lernens und Arbeitens, die Reisen.
Der Wechsel der Jahreszeiten, der Anfang und Ende immer schon in sich trägt, ein zyklischer Ablauf von Festen und Ritualen, all das hat seine übermächtige, taktgebende Funktion lange verloren, jedoch sind es noch die Emotionen, die zum Beispiel der Schnee, das Schauspiel der Wolken oder ein bestimmter Einfall von Sonnenlicht an langen Sommerabenden erzeugen können, die die Einbettung in den heimischen Kosmos wie automatisch auslöst. Die neuen Räume, die noch zu wenig bewohnten Zimmer fragen herausfordernd nach Einordnung in meine zu vervollständigende Erzählung, nicht einmal direkt nach sprachlicher Repräsentation, sondern nach Aneignung, Wiedererkennung und Beachtung. Wie mit behutsamen Stichen nähen die Wohnungen und die Dinge darin und um sie herum einen Saum an das alte Kleid von Behausung und fügen schließlich, Stoffbahn um Stoffbahn, neues Gewebe hinzu.


(2015)

Und die Trennung? Was ist mit der Unbestimmtheit vorübergehend bewohnter Orte, ihrer Nichtverwurzelung in der gedachten Abgeschlossenheit meiner vier Wände? Was ist am Fremden wirklich fremd, das es über die Schwelle meines Zimmers schafft und bleibt? Und was, wenn man tatsächlich eine Heimat auch im Anderen gefunden hat, deren Genealogie, statt sich aus dem Unvordenklichen zu entfalten, sich nur auf einen bestimmten Ausschnitt von Geschichte beschränkt, die dort vor dem Dunkel des Fremden schwebt, an dem man sonst keinen direkten, lebendigen Anteil hatte. Was für ein Gefühl von Glück und Melancholie zugleich! Fast wie ein Modell von Leben mitsamt seinem simulierten Tod im verkleinerten Maßstab.
Dann ist es das Wohnen in einzelnen, miteinander sprechenden Stücken von Zu-Hause-sein, die, ohne es zu wissen, einen Satz absoluter Fülle formulieren, den die vom Ausschluss definierte Grammatik einer einzigen, einmaligen Heimat nicht kennt und der ihr nichts sagt. Nur wenn sie sich in ihrer stetigen, immanenten Abwesenheit, ihrer notwendigen Neu- und Andersgestaltung und nicht als Ganze, an einem jenseitigen Ort liegende begreift, wird diese Geborgenheit sich in ihren Bruchstücken wiedererkennen und zu einer Erzählung finden können, die das zwingende syntaktische Joch abgeworfen hat.