Mittwoch, 13. April 2016

"Was ist eigentlich Aura?" fragt Walter Benjamin in seiner Kleinen Geschichte der Photographie. "Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen."*

Ich habe hier die beiden Stellen hervorgehoben, die mir zunächst besonders interessant scheinen, denn sie zeigen, dass das, was Benjamin unter Aura versteht, nicht lediglich ein visueller Reiz oder ein optisches Phänomen ist, sondern dass die Aura eine gewisse synästhetische Qualität aufweist: der Zweig ist hier zunächst nicht allein Objekt einer kontemplativen Betrachtung, nicht schon das Bild eines Zweiges, denn er interagiert mit seinem Betrachter, er berührt diesen, wenn auch nur indirekt in Form eines Schattenwurfs. Der Betrachter quasi sieht und ertastet gleichzeitig den Zweig. Aus diesem Grund kann der Zweig nicht irgendein beliebiger Zweig sein oder die Idee eines Zweigs, sondern es muss ein konkret vorhandener, physisch präsenter Zweig sein, der die Ursache eines ebenso vorhandenen, wahrnehmbaren Schattens ist.

Der zweite Aspekt ist der des Atmens. Abgesehen von der existenziellen Konnotation des Wortes atmen, seiner Bezeichnung für eine überlebenswichtige Vitalfunktion des menschlichen Organismus, abgesehen auch von seiner metaphorischen Nähe zu Begriffen wie Seele oder Geist ist die Tätigkeit, etwas zu atmen, ein ganz konkreter, physischer Vorgang und dazu noch, wie das Essen oder Trinken, ein maximal invasiver. Mehr noch als die Berührung durch einen Schatten ist das Atmen der Aura fast ein Verschlingen derselben, oder kommt einer Verschmelzung mit ihr gleich. Man kann sich hierbei leicht vorstellen, dass diese Aura, die Benjamin im Sinn hat, auch einen Geruch verströmt, d.h. einen weiteren, einen olfaktorischen Reiz auslöst, der wiederum das Visuelle ergänzend erweitert.

(2011)
 
Ich finde diese synästhetischen Erweiterungen in mehrerlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen bereichern sie die visuelle Wahrnehmungsdimension um Kanäle, die im Gegensatz zum Sehen weniger stark mit dem Erkennen, also mit dem verstandesmäßigen Begreifen assoziiert sind, als vielmehr mit Formen der Erfahrung, dem unmittelbaren Fühlen, dem spürenden Kontakt, der das Ergebnis einer gegenseitig offenen Ko-Präsenz oder zumindest des aufnehmenden Bewusstseins eines Fühlenden ist.

Zentral ist dabei für mich, dass die Aura nicht etwa eine Essenz zu meinen scheint, auch keinen Kern eines Wesens oder eine vergleichbare ontologische Konstruktion, wenn es auch auf den ersten Blick so scheinen mag. Es ist nicht der Zweig an sich, der seinen Schatten auf mich wirft, es ist dieser Zweig. Man denke hier auch an Barthes: dieser, der so gewesen ist. Der er selbst ist, jedoch nur aufgrund seines Unterschieds zu allen anderen. Damit vermittelt die Aura keine positive Form von Identität, sondern eine negative, die nicht sprachlich operiert, sondern durch performative, existenzielle Verdrängung dessen, was sie nicht ist, entsteht. Demnach meint die Aura auch nicht den Begriff, den wir von etwas haben, sondern den Teil unserer Wahrnehmung, der außerhalb unserer Sprache liegt. Es geht hier nicht etwa um den semantischen Gedanken „Dies ist ein Zweig, der seinen Schatten auf mich wirft“. Indem wir diesen Gedanken formulieren, tun wir etwa Folgendes:

Wir sezieren den Zweig sprachlich-begrifflich aus unserer Wahrnehmung als Ganzer heraus und identifizieren ihn damit als solchen: „Dies ist ein Zweig.“. Doch dieser Akt des Benennens ist nicht unproblematisch; in ihm spiegelt sich bereits die Unzulänglichkeit unserer Sprache als abbildendes Medium wider: Der Zweig ist einerseits Teil und Glied eines Baumes, den wir wiederum erst sprachlich aus der Landschaft lösen müssen, um ihn benennen zu können usw. Andererseits ist der Zweig sprachlich niemals genau genug beschrieben, etwa die Anzahl und Form seiner Blätter, die Rinde, seine Biegsamkeit etc. Würde man dies versuchen, würde das Bild des Zweiges, das wir uns machen, in der Flut seiner eigenen Details untergehen. Unsere Sprache ist sowohl im Detail als auch im Gesamtzusammenhang stets unscharf.

Ich vermute, dass Benjamin hier – bewusst oder unbewusst – bei seiner Beschreibung der Aura auf nichtvisuelle und außersprachliche Eigenschaften zurückgegriffen hat, um den Charakter einer Inkarnation hervorzuheben, den die Aura für ihn hatte, im Gegensatz etwa zu ihrer mechanischen Wiederholung, die für ihn der Aura entbehrte. Die Aura erscheint damit als eine Präsenz, die zwar flüchtig ist und womöglich kontingent, die aber absolut real ist – nicht im Sinne von Wahrheit als logisch überprüfbarer Tatsache oder Echtheit, der eine qualitative Bewertung zugrunde liegt, sondern als das Reale, als das, was vorhanden ist, indem es nichts anderes ist.


*Walter Benjamin: Aura und Reflexion. Schriften zur Kunsttheorie und Ästhetik. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 2007, S. 363.

Mittwoch, 11. November 2015

Was heißt sehen? Der Vorgang visueller Wahrnehmung, das Eindringen von Bildern in mich, ist zunächst ein körperlicher, physikalischer Prozess, der das Objekt des Sehens außen vor lässt. Die Frage nach dem, was gesehen wird, stellt sich weder für das Licht noch für das Auge, sondern wird erst von meinem Bewusstsein aufgeworfen. Sehen ist also nicht gleich Erkennen, geschweige denn bereits eine Interpretation des Gesehenen. Aber da ich als Bewusstsein stets in Bezug zu mir sehe (aus meiner Perspektive, vor dem Hintergrund meiner Erinnerung), entwickle ich Kategorien für die Gesamtheit an visuellem Eindruck, ich teile und ordne sie, belege sie mit Bedeutungen und reagiere auf sie.

Doch in dieser Beziehung geht mir das zu Sehende immer voraus, es transzendiert mein gesamtes Dasein völlig - ich bin in es hineingeboren worden und werde in ihm sterben. Das bedeutet, dass, als ich noch keine Begriffe hatte für die Schemen, Schatten, Farben und Formen, die auf mich eindrangen, sie sich ohne einen anderen Filter als den physikalischen meiner Augen und meiner Perspektive in mich hinein fortgesetzt, mich ausgeleuchtet und vollständig durchdrungen haben.

Nun versuche ich, diesen Prozess umzukehren und die Dinge wieder zu zersehen, das heißt sie wieder in den einförmigen Strom von Licht zurückzuverwandeln, aus dem sie sich speisen. Selbstverständlich gelingt das nicht oder zumindest nicht gänzlich. Aber ich spüre, wenn ich es versuche, dass in dieser Auflösungsbewegung der Dinge ihr "wahres" Dasein deutlicher wird, dass sie ihre Geschichte ablegen, um endlich völlig präsent zu sein, hier und jetzt. Im Übergang aus der Sphäre, in der sie gebraucht werden, um symbolischen Zwecken zu dienen (als Anthropomorphismen überall) tauchen sie in den nüchternen, klaren Bereich des Indexikalischen auf, in dem sie nichts mehr aussagen als sich selbst. Aber dann sehe ich, wie sie auch diesen Rand eines gedachten Beckens übersteigen und auslaufen ins... Nichts?

Wenn sie sich komplett geöffnet haben, gehen die Dinge ineinander über und lösen diesen Beckenrand mit sich auf. Nur innerhalb einer Welt von Begriffen hat dieser Rand einen Sinn und einen Ort, durch die Öffnung und Durchdringung meiner Kategorien verliert er seine Bedeutung. Dazu zählt auch die Kategorie der Zeit, weshalb die Auflösung meine Erinnerungen nicht auslöscht, sondern sie im doppelten Wortsinn aufhebt: Sie gehen in einer vierten Dimension der Entgrenzung (der zeitlichen, neben den drei räumlichen Dimensionen) ineinander über, indem die Zeit sich auflöst und sie erhalten ihren Anteil an der Realität - als Erinnerungen des Realen, das mich überschreitet und das keine Einteilungen hat.


Lächeln im Sommer,
Samstag, im Schatten liegend
den Freunden ein Platz.


(2013)

Freitag, 6. November 2015

Möblierter Saal

In dem sehr dunklen Licht - von jener besonders finsteren Spielart, wie sie an einem glutheißen Nachmittag im August durch die herabgelassenen Jalousien in ein Sterbezimmer sickert - an den Wänden, getüncht mit einer Farbe, die so durchscheinend schlüpfrig anzuschauen und so hart anzufassen ist wie das Glas, das die Tropfsteinhöhlen überzieht, ein leichter geräuschloser Wasserschleier wie auf dem Schiefer der Bedürfnisanstalten, sanft schillernd, erschauernd wie Seide. Die Rinnen, die in der linken Raumecke im Zwielicht zusammenfließen, speisen, bevor sie verschwinden, ein winziges Kressenbecken. An der rechten Seite, in einem großen Faraday'schen Käfig für Experimente mit Blitzschlägen, lässig, wie eben vom Morgenspaziergang zurück, über die Armlehne einer Sella curulis geworfen, Cäsars blutbefleckte Toga, kenntlich an ihrer Museumsbeschriftung und an dem Anblick sui generis der unverwechselbar echten Einstiche. Eine rustikale Schweizer Uhr mit doppeltem Klang, Wachtel und Kuckuck, die die halben und Viertelstunden in die Aquariumsstille schlägt. Auf dem Kamin leidige Objekte einer sonderbaren, höchst absichtsvollen Zurschaustellung inmitten einer Überfülle viel prunkvollerer Nippsachen, ein angebrochenes Päckchen Krüllschnitt und die Photographie des Präsidenten Sadi-Carnot als Erstkommunikant (starke Pappe, geknickte Ecken, Rand erhaben und vergoldet, gediegene Arbeit für katholische Familien, mit Namenszug des Photographen). Im Hintergrund des Saales, halb im Schatten, läßt ein Güterwagen mit Bremserhäuschen auf einem Abstellgleis, das übergrünt ist von Butterblumen und Doldengewächsen, durch seine halboffene Tür ein Service aus gleißendem Sèvres-Porzellan sowie ein schönes Arrangement kleiner Likörgläser schimmern.


Julien Gracq, aus Liberté grande (1947)


(2015)

Dienstag, 27. Oktober 2015

Da du fort bist, ist es ein Leichtes, dich mitzuführen. Wie an einem silbernen, fast unsichtbaren Faden, der in die Schwerelosigkeit führt. Jetzt, da du weg bist, bist du überall. Du besiedelst mein Denken und ich belebe dich noch, als sei nichts weiter geschehen. Solange ich spreche, klingst du nach und glühst aus. Jetzt, da es keinen Weg zu dir gibt, begleitest du jeden einzelnen Schritt.

Auch dein Bewohnen war Widerspruch, ein Teil von Teilen, Brücke, Klammer, Stimme im Chor. Die Welt errichtete sich und begann zu singen. Sie sang dich an. Da war der Widerschein von Steinen, Grün, Wechsel der Wolken und langes, ausgemaltes Warten. Ein Gespräch von flüchtigen, leuchtenden Worten – ein Tag, der sich ins Fleisch des Jahresringes legt.
Da war auch der Abstand, Haut und das gläserne Schwarz deiner Augen. Du als Spiegel. Dein Blick in die Ferne. Und ich stellte Fragen.

Und jetzt, mein Brunnen, rauschst du nicht mehr. Hast deine Kühle ausgehaucht und deinen Trank gespendet. Alles ist vergeben. Du bist vergossen und nährst unseren Gesang. Wo du nicht mein Gast warst, sind die Kelche trocken geblieben. Deine Quelle ist leer. Du hast das Fließen bewiesen.
Ich hebe dich auf und trage dich fort. Damit wir uns lösen, irgendwann.


(2012)

Donnerstag, 22. Oktober 2015

(2015)

Der erleuchtete Mensch ist wie der Mond, der im Wasser sich spiegelt [...]: der Mond wird nicht naß, und das Wasser wird nicht gestört. Obwohl das Licht des Mondes breit und groß ist, wohnt es in einem kleinen Wasser. Der ganze Mond und der ganze Himmel wohnen in einem Tautropfen auf einem Grashalm, in einem einzigen Wassertropfen. Erleuchtung durchbricht das Einzelwesen nicht, genauso wie der Mond das Wasser nicht durchbohrt. Das Einzelwesen stört den Zustand der Erleuchtung nicht, genauso wie ein Tautropfen den Himmel und den Mond nicht stört.

Dôgen: Shôbôgenzô (aus Byung-Chul Han: Philosophie des Zen-Buddhismus)

Mittwoch, 21. Oktober 2015

Es geht mir nie um Darstellung, wenn mit Darstellung das Erzeugen einer Art von Projektion gemeint ist, die auf die platonische Idee zurückgeht: eine Projektion also, die als eine unwandelbare, überzeitliche Idee vorgestellt wird. Diese Art von Idee, wenn ich sie lokalisieren müsste, befindet sich dem Schein nach außerhalb, in einer Sphäre jenseits des Bewusstseins und ist diesem vorausgehend und transzendent.
Ich suche jedoch das Abbild. Das Abbild verhält sich zur von mir vorgestellten Idee nicht wie das Wahre zum Falschen oder das Tatsächliche zum Vermeintlichen. Ich möchte solche Unterscheidungen hier nicht machen. Das Abbild bewegt sich stets von mir fort, weil es in der Zeit ist, wie ich. Es bleibt stehen, ich schreite fort. Aber gleichzeitig erreicht es mich durch seine Eigenschaft, eine Geste der Gegenwart ausführen zu können, also im fotografischen Abbild referentiell, quasi-identisch anwesend zu sein, wenn auch nicht verfügbar. Das heißt auch Zeuge zu sein – sowohl in Bezug auf das Abgebildete als auch auf mich, den Betrachter, der das Abbild erkennt und benennt. Dies schafft es durch den Eingang des (meines) Bildes, meiner Wirklichkeit ins für mich wirkliche Abbild. Es gleicht einer Alchemie des Daseins und wird in der Tat den Charakter eines Zaubers nicht los.


(2015)

Doch ist diese Wiedergabe der Eigenschaften des Abbildes noch zu simpel, beziehungsweise fehlt noch eine wichtige, oder sogar die allerwesentlichste Facette. Denn es taugt nicht jedes Abbild als Träger dieser „Magie“. Gerade die Bilder, die bewusst deshalb entstanden sind, um sich an etwas zu erinnern, entbehren oft dieser Qualität. Sie wirken kalt und leblos. Wenn ich ein lebendiges Bild herstellen möchte, kann ich zwei Dinge versuchen:
Ich kann mich erstens mit meiner Kamera möglichst nach den Bedingungen des Auges richten, das heißt, nicht den Gegenstand, sondern den Blick darauf einfangen und wieder ermöglichen. Ich kann aber auch zweitens versuchen, das Abbilden abzubilden. Das bedeutet, dass ich den Gegenstand nicht ausgebe als ihn selbst (das ist von vornherein zum Scheitern verurteilt), sondern wie im zuvor genannten Schritt thematisiere ich den Blick, nun aber noch mit dem bewussten Zusatz, dass es ein vermittelter Blick ist.
Schließlich soll deutlich werden, was ich unter dem Abbild, beziehungsweise der Tätigkeit des Abbildens verstehe. Es ist der zunehmende Rückzug aus einer Welt der Erscheinungen in einen Prozess des Erscheinens, von Erkenntnissen auf Erkenntnis, nämlich dessen, was für mich immer das Objekt sein wird: diese Folie, dieser Schirm, auf dem sich mir das darbietet, was „ist“. Es ist tatsächlich die Höhlenwand, um die es geht, nicht etwa das, was hinter meinem Rücken vorgeht. Hinter meinem Rücken erscheint nichts bevor ich mich umdrehe – nur, um wieder auf die Wand zu blicken.

Donnerstag, 20. August 2015

Diesen Tag habe ich nicht besessen, aber ich bin Eigentümer des Missverständnisses, das er mit sich gebracht hat. Ich habe nichts gesagt von Belang und fühle mich, als hätte ich mich schuldig gemacht am Belanglosen. Mir war nicht klar, dass ich warten musste, bis er sein Jetzt und sogar sein Hier erst entfalten würde, entfalten könnte. Mir war nicht bewusst, dass mein Bewusstsein seines überlagert und wie das Sonnenlicht einen Glühbirnenschein mit seiner Sichtbarkeit erstickt. Ich habe zu viel erkannt von diesem Tag und zu wenig gesehen. Nun ist er aus dem Ozean der Durchsichtigkeit aufgetaucht und wie eine Perle lässt er sich zwischen den Fingern drehen und betrachten.


(2015)

Noch reicher ist er geworden, seit er sich in die Stille zurückgezogen hat; er hat sich gerettet ins Vergessen und auch die Wunden sind vernarbt, die er sich im unmittelbaren Werden, im schrecklichen Herausholen von Neuem aus Unbekanntem zugezogen hat. Das war die Reifung.

Du magst dir einbilden, sein Urheber zu sein, der Herr einer Kette von Zukunft, ein Zählender im Besitz von Maßstab. Du bist es nicht. Kein Körnchen deines Tages hat je von dir Notiz genommen, aber jener Tag beleuchtet dich in seiner Wiederkehr sehr deutlich. Er setzt dich endlich an genau die Stelle, an der du dich im ersten Augenblick nicht sehen konntest. Er atmet noch nach, was du längst zurückgelassen glaubtest und gibt es dir wieder als das, was dir ähnlich sieht.